Hooggejazzd!

Das Wort des Jahres 2016 in den Niederlanden ist hochgejazzt.

Beziehungsweise: das woord van het jaar ist NICHT „hoog­gejazzd“. Was ich sagen möchte ist, dass das gewählte Wort künstlich aufgebläht ist. Hoog­gejazzd wäre aber ein durchaus würdiger Titelträger: very 2016, very zeitgeisty. Aber ebenso hätte es mich gefreut, wenn dekbedovertrekset, atoomonderzeeër oder meeneuriënde zee­meer­minnen1 Wort des Jahres geworden wären.

meeneuriende-zeemeerminnen-dia2015 wählte man Schummelsoftware. Der diesjährige Skandal um Spendersamen ließ Schummel-sperma (sjoemelzaad) als designierten Nachfolger erscheinen. Doch anders als die Belgier haben sich die Niederländer für ein ganz und gar sexloses Wort ent­schieden. Die Flamen und Fläminnen haben nämlich Samsonsex gekürt: der Sex, den Eltern haben, während ihr Nachwuchs Kinderfernsehen guckt.

Mein Geheimfavorit war ja Briefschlitzschnur. Der hochbetagte ehemalige Politiker Jan Terlouw rührte sich selbst und Millionen Niederländer zu Tränen mit einem Plädoyer an die jüngeren Generationen für weniger Miss­trauen in der Gesellschaft. Sein Sinnbild für das vermeintlich verlorene Vertrauen: die Schnüre, die früher in vielen Straßen aus den Brief­schlitzen hingen und mit denen man die Türen der Nachbarn öffnen konnte. Es war Anfang Dezember und vielen Nieder­ländern schien eine solche Schnur aus den Herzen zu hängen und der Großvater aus den guten alten Zeiten zog daran und öffnete sie. Er er­reichte die Menschen von den Platten­bauten in Bergpolder bis zu den Wolkenkratzern am Wilhelminapier. Für einen Moment vergaß man, dass eine Haustürschnur im 45. Stock recht unpraktisch ist, oder, dass es peinlich sein kann, wenn die Nachbarn gerade in dem Moment hereinschneien, wenn KiKA-koitieren / Sesamstraße-schnackseln angesagt ist.

Es war letztlich aber nicht der Elder Statesman, der 2016 wortdesjahresmäßig seinen Stempel auf­drücken konnte, sondern ein halbstarker Hobbyfilmer. Ismail Ilgun wohnt in einem sozialen Brennpunkt, in Poelenburg. Hier gibt es keine Briefschlitzschnüre, sondern Pfefferspray und Jugendliche, die auf den Dächern von Polizeiautos tanzen. Ilgun lebt vom Filmen solcher Motive, und weil er seine Freunde vor laufender Kamera dazu animiert, Polizisten zu provozieren oder Gewalt gegen Unschuldige auszuüben hat er sich den Spitznamen „treitervlogger“ (= Schikanevlogger) eingehandelt. Und weil diese Art, Vlogs zu machen Schule gemacht hat, ist Schikanevlogger eine Art Gattungsbezeichnung geworden und jetzt sogar Wort des Jahres. So, jetzt ist es raus!

Ebenso groß wie die Rührung bei den Worten von Opa Terlouw war, war die Empörung der braven Bevölkerung über die Rotznase Ilgun: der Aufreger der Woche war es, dass seine Freunde sich weigerten, in einer Talkshow die Sonnebrille abzunehmen. Premierminister Rutte reagierte auch 2016 auf Randerscheinungen höchstpersönlich und nannte Ismail und seines­gleichen „licht­scheues Pack“. Wie ich bereits eingangs erwähnte: das Wort des Jahres ist compleet hooggejazzd!


1 Deckbettbezugsset, Atom-U-Boot und mitsummende Meerjungfrauen20150326_110257

Wort des Jahres

Das Wort des Jahres 2015 in den Niederlanden: sjoemelsoftware (Schummelsoftware)
Gemeint ist die sogenannte Abschalteinrichtung, mit der Volkswagen die Abgaswerte seiner Dieselfahrzeuge manipulierte.

Mein persönliches Wort des Jahres aber fährt nicht Auto, sondern Zug: perronpoeper
Niederländische Züge sind im Allgemeinen immer noch mit einer Fallrohrtoilette ausgestattet, weswegen das WC nicht auf Bahnhöfen benutzt werden darf. Sonst geht der Inhalt der Spülung direkt auf die Gleise. Das ist nicht so appetitlich, zum Beispiel direkt im nigelnagelneuen Rotterdamer Centraal Station.

Seit Jahr und Tag rege ich mich über solche zuwiderhandelnde Zugtoilettenbenutzer auf, seit 2015 habe ich endlich das griffige Wort fürs naming and shaming: Gleisscheißer

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