Die Extrawürste des Erlösers
Johan Cruijff ist tot. Seine Initialen JC, sein Spitzname „der Erlöser“ und seine Worte „im gewissen Sinn bin ich wahrscheinlich unsterblich“ lassen jedoch manchen hoffen, dass er heute am Ostersonntag doch noch zurückkehren könnte. Man trauert schließlich um den größten Niederländer seit…
…den größten Niederländer aller Zeiten.
Am Karfreitag spielte Holland in der Amsterdam Arena (die schon bald Johan Cruijff-Stadion heißen könnte) ein Freundschaftsspiel gegen gegen Frankreich. Das Spiel wurde in der 14. Minute unterbrochen für eine Schweigeminute, außerdem spielte Oranje ohne eine Nummer 14 im Kader. Der niederländische Fußballbund erwog selbst, die Nummer 14 für immer zu streichen, aber das scheinen UEFA und FIFA nicht zu erlauben. Bei Ajax wird die Rückennummer 14 bereits seit 2007, Cruijffs 60. Geburtstag, nicht mehr vergeben.
„Was Johan Cruijff für den Fußball ist, das bin ich ich fürs Fernsehen. Nur mache ich immer noch Witze und er kann nicht mehr vor den Ball treten.“
Rudi Carrell
Die Nummer 14 war Cruijffs Markenzeichen, der Amsterdamer war überhaupt einer der ersten Fußballer bei dem man von professioneller Vermarktung sprechen konnte. So hatte er bereits einen Spielerberater, in einer Zeit, in der die Vereine eigentlich noch direkt mit dem Spieler sprachen. Es kam sehr ungelegen, dass Trainer Rinus Michels sich für die Weltmeisterschaft 1974 ausgedacht hatte, die Nummern alphabetisch zu vergeben, das hieß: je näher am „A“ desto niedriger die Nummer. Demnach hätte Cruijff mit der für einen Feldspieler unerhörten Nummer 1 auflaufen sollen. Nur wenige Monat zuvor war noch ein von Cruijffs Berater produzierter Dokumentarfilm erschienen mit dem Titel „Nummer 14 – Johan Cruijff“. Der Kapitän der Elftal weigerte sich, Michels Zahlenspiele mitzuspielen. Es wurde für ihn eine Ausnahme gemacht. Die Regel galt aber weiterhin für alle anderen, und so durfte Ersatzstürmer Ruud Geels mit der Torwartnummer auflaufen, beziehungsweise froh sein, dass er keine einzige Spielminute bekam.
Es sollte nicht die einzige Extrawurst bleiben, die man dem Anführer der Nationalelf briet, denn es behagte dem Puma-Werbeträger auch wenig, dass Adidas der Ausrüster von Oranje war. Johan Cruijff sagte zum KNVB: „WIR müssen Adidas tragen, weil IHR dafür bezahlt werdet. Entweder ihr bezahlt mich auch dafür, oder ich trage Puma!“ Der Bund weigerte sich, und so trug Cruijff zwar kein Puma während der Endrunde, wohl aber als einziger Spieler ein spezial angefertigtes Trikot mit lediglich zwei Streifen.
Eine solche Vorzugsbehandlung bekommt nur der Allerbeste, und das war die Nummer 14 zweifelsohne. Ausländische Beobachter trauten ihren Augen kaum, doch für seine Teamkameraden war es das Normalste der Welt: Cruijff klaute nicht nur dem Gegner den Ball, er lief mitunter auch zum eigenen Mann, um ihm den Ball wegzunehmen. 1974 war Cruijff der beste Fußballer der Welt, machte seine Mannschaft zu der besten ‒ es schien nur folgerichtig, dass er den Weltpokal in die Luft stemmen würde…
Doch dann wurde der Finaltag zum schwarzen Sonntag. Für viele Niederländer symbolisiert der 7. Juli 1974 das Ende der 60er Jahre: das Ende aller Illusionen. Ein Trauma ward geboren. Chris Willemsen schreibt in seinem Buch De moeder aller nederlagen: „Selbst wenn wir jedes Jahr zehn Mal zweistellig gegen die gewinnen, dann noch kann die Freude über diese Siege nicht den herzzerreißenden Schmerz des verlorenen WM-Finales aufwiegen.“ Viele sind hierzulande bis heute davon überzeugt, dass man um den Titel betrogen wurde durch Berti Vogts und die BILD-Zeitung. Die Schlagzeile „Cruijff, Sekt, nackte Mädchen und ein kühles Bad“ (heute hieße das wohl eher: Käse! Kicken! Ficken!) soll Cruijff den Schlaf gekostet haben, da er am Telefon seine Frau beschwichtigen musste. Die nackten Mädchen soll der BILD-Mann selbst mitgebracht haben. Im Finale dann konnte die übernächtigte Nummer 14 dem Terrier genau einmal entwischen, nämlich in der allerersten Minute (Die Ballkontakte in der 1. Minute des WM-Finales 1974 bis zum 1:0 für die Niederlande: Cruijff – Van Hanegem – Neeskens – Krol – Rijsbergen – Haan – Suurbier – Haan – Rijsbergen – Haan – Cruijff – Rijsbergen – Krol – Van Hanegem – Neeskens – Rijsbergen – Cruijff – Neeskens). Nach dem 1:0 aber klebt Vogts wie eine Briefmarke an Cruijff, und so machte der Wadenbeißer Europas Fußballer des Jahrhunderts zur Achillesferse. Bondscoach Rinus Michels soll nach dem Spiel zu Vogts gesagt haben: „Schade, dass dieser berühmte Cruijff nicht mitgespielt hat, sonst hättest du heute bestimmt nicht so einen leichten Nachmittag gehabt.“
Aber waren es wirklich mittelalterliche Manndeckung und eine Hetzcampagne, die verhinderten, dass der große Johan Cruijff in seinem Leben alles gewann, bis auf den WM-Titel?
Guido Frick, der Sektmädchen-Journalist, wurde im holländischen Mannschaftshotel Zeuge dessen, was der Stab arg wohlwollend als „freie Disziplin“ bezeichnete: Die Mannschaft feierte den Zwischenrundensieg gegen die DDR als sei man bereits Weltmeister geworden. Es wurde viel Alkohol getrunken und auch kräftig geraucht. Cruijff schnorrte den als Nudelvertreter getarnten Frick um Zigaretten an und kippte einen (als „Sparwasser“ getarnten) Whiskey nach dem anderen. Der jetzt an Lungenkrebs gestorbende Cruyff rauchte in seiner aktiven Zeit heimlich in der Halbzeitpause und nach dem Spiel auch öffentlich. In der letzten Reihe im Spielerbus qualmte er und auf dem Hotelzimmer sogar so viel, dass Zimmergenosse Johan Neeskens („Johan, der Zweite“) darum bat, verlegt zu werden.
Die orangenen Löwen erwachten in München also mit einem gehörigen Kater. Das Reizwort „München“ sollte Cruijff auch in der Zukunft noch Kopfschmerzen bereiten: Nachdem Cruijff und Ajax 1971, 1972 und 1973 mit revolutionärem, höchst unterhaltsamen Angriffsfußball dreimal in Folge den Europapokal der Landesmeister gewonnen hatten, gelang darauffolgend den Bayern aus München dasselbe Kunststück: sie gewannen den Henkelpott 1974, 1975 und 1976. IHR Fußball war allerdings das totale Gegenteil der Amsterdamer Schule: unansehnlicher Kampffußball, häufig mit mehr Glück als Verstand, zum Beispiel mit völlig unverdienten Siegtreffern in der Nachspielzeit (Stichwort: Müllertor).
1978 dachte man, es sei eine gute Idee, die beiden großen Mannschaften der 70er gegeneinander spielen zu lassen und Bayern München zu Johan Cruijffs Abschiedsspiel bei Ajax Amsterdam einzuladen. Die Holländer versäumten es allerdings, den Bayern zu erklären, dass ein Abschiedsspiel im Wesentlichen so abläuft, dass man den Jubilar einmal treffen lässt, um ihn dann auf den Schultern vom Platz zu tragen. Die Bayern jedoch kamen nicht mit ein paar Kästen Bier aufs Spielfeld, sondern mit einer Menge Wut im Bauch (Scheiß-Hotel, von den Fans als Nazis beschimpft, von den Gastgebern mit dem Arsch nicht angeguckt…). Mit 8:0 (in Worten: acht! zu! null!) regten sie sich ab und die Niederländer bis heute noch auf. „Typisch Duits!“ Sepp Maier nimmt einen Ehrenplatz ein im Pantheon deutscher Antipathieträger, sitzend, mit einem seiner Pfosten als Rückenlehne. Der Maier Sepp machte es sich tatsächlich mitten im Spiel auf seinem Allerwertesten bequem. „Een akelig mannetje!“ Spät, erst im Jahr 2006, entschuldigte sich Karl-Heinz Rummenigge („Es war eine Beleidigung.“).
Inzwischen sind weitere zehn Jahre vergangen und das Freundschaftsspiel zwischen Frankreich und den Niederlanden wird kurzfristig zu Johans Abschiedsspiel. Diesmal also für immer. JC muss sich aber auch dieses Mal mit der Niederlage einer schlecht spielenden Mannschaft begnügen. Die Zeitungen schreiben, dass Oranje nur in der 14. Minute nicht überfordert war, und dass man das Stadion absolut nach Cruijff benennen sollte, aber bitteschön auch einen Ausgang nach dem heutigen Nationaltrainer Danny Blind. Den Siegtreffer für die Équipe Tricolore erzielte übrigens Frankreichs Nummer 14. Ausgerechnet. Darüber lacht der Fußballgott.
Und Vincent sah die Sonnenblumen
Und Einstein sah die Zahl
Und Zeppelin den Zeppelin
Und Johan sah den Ball
(frei nach Toon Hermans)