30 Jahre Halbzeitpause

Uefa-Cup-Finale 1988: als Zehnjähriger werde ich nach der ersten Halbzeit ins Bett geschickt. Es steht 0:0, und nach dem 0:3 im Hinspiel setzt niemand einen Pfifferling auf Bayer Leverkusen. Ich gucke die zweite Halbzeit nachträglich. Dreißig Jahre später.

Ich sehe mir, um wieder ein bisschen reinzukommen, auch die erste Halbzeit an und werde gleich belohnt: Hymne und Logo der Eurovision! Als Kind bin ich dann immer besonders aufgeregt. Meistens bei Wetten, dass… („Wir begrüßen unsere Zuschauer in der Schweiz und in Österreich!“). Heute Abend aber, versichert der Reporter Günter-Peter Ploog, berichten 24 Stationen aus 20 Ländern! Für mich überträgt das ZDF, und das ist ja auch ganz richtig so, dass der ewige Zweite im Zweiten gezeigt wird, haha!

Das Spiel fängt an. Bereits in der zweiten Minute eine gelbe Karte für Alois Reinhardt. „Who the fuck is Alois?“ Kann mich an den Spieler nicht erinnern, sorry! Drücke zunächst auf Pause und unterdrücke dann doch den Reiz, Alois zu googeln. Der Zeitgeist bleibt in der Flasche.
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Ich fühle mich wie beim ersten Stadionbesuch, denn verzogen von den heutigen Fernsehbildern traue ich meinen Augen kaum: keine Wiederholungen, keine Zeitlupe, kaum Nahaufnahmen, keine Stimmungsbilder von der Tribüne. Der Spielstand wird nur zweimal kurz eingeblendet. Keine Spielernamen, keine Reklame auf den Trikots. Die Bandenwerbung flackert nicht. Das gesamte Seherlebnis ist angenehm reizarm. Apropos Bandenwerbung: Solides (Metaxa-Bauhaus-Erdgasheizung) neben Rätselhaftem: Was soll Valli Colombo – die Beschläge / las manillas bedeuten? Ich grübele, doch bleibe: standhafter Googlenix. Den Schriftzug Flair Plastics korrigiert mein 2018-Ich beim ersten Lesen unterbewusst zu Fair Plastics. Überhaupt: dieses 2018-Ich, der alte Sack, hat gut reden und schwadroniert von „reizarm“ und „Entschleunigung“ während der zehnjährige Junge vielleicht vor Aufregung bereits dreimal in den Frottee-Schlafanzug gepinkelt hat. Aber wenn man ehrlich ist, dann passiert in der ersten Halbzeit herzlich wenig. Der Kommentator sagt zwar: „Ich würde an Ihrer Stelle zuhause die Mannschaft noch nicht aufgeben.“ Mama und Papa jedoch tun genau das: „Das war’s, da geht nix mehr.“ Mir hilft auch nicht, dass Günter-Peter Ploog einen Kalenderspruch raushaut:

„Unmögliches kann ja manchmal sofort erledigt werden. Wunder dauern halt etwas länger.“

Meine Eltern überhören das. „Marsch ins Bett!“
(…)
Zweite Halbzeit, Terra incognita! Jetzt ist auch das 2018-Ich endlich im Spiel angekommen und zeigt die einem Finale angemessene Anspannung. Bayer legt los wie Zatopek (nein, das sind keine Zäpfchen aus dem Bayer-Giftschrank, das …
TOR! TOR! TOR! Tita! Reingestochert, reingewürgt! Reiner Wille! Zur Feier des Augenblicks gibt es die erste Zeitlupenwiederholung. Eine einzige! Und da geht das Spiel auch schon weiter. Fünf Minuten später wird Tita ausgewechselt. Was geht denn hier ab? Doch der Neue, Klaus Täuber, flankt eine weitere Minute später knallhart in die Mitte, wo Falko Götz mit einem wahnsinnigen Flugkopfball das 2:0 erzielt. Ein Traumtor! Doch auch jetzt wieder nur eine einzige Wiederholung. Bei aller Nostalgie denkt das 2018-Ich leise „menno!“
Doch keine Zeit zum Verweilen, denn „es kann rauschen in Leverkusen! Was für ein Spiel… in dieser zweiten Halbzeit.“ Die Spanier verlegen sich jetzt aufs Zeitschinden und Schiri Jan Keizer spielt ungeniert Taschenbillard; zeigt einen Löw’schen Sackkratzer avant la lettre. Als ob meine Eltern geahnt hätten, das sich jugendgefährdendes abspielt in der zweiten Hälfte. Auch der Reporter hat etwas geahnt: „Ich hab meinen Videorekorder daheim getimet bis 23:00 Uhr.“
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Das Wunder geschieht: 3:0! Es geht in die Verlängerung. Der Reporter erwähnt die Siegprämie: 20.000 DM. Wie niedlich!
Bereits das gesamte Spiel über preist Ploog ausdrücklich die gute Stimmung im Ulrich-Haberland-Stadion, doch in der Verlängerung schwinden auch ihm die Kräfte, das folgende Lob rutscht ihm über den Spann: „Also, wenn es irgendwo eine Zuschauermedaille zu verleihen gibt, dann wäre dies Leverkusener Publikum heute Abend einer der Aspiranten auf diese Medaille.“
Irgendwo? EINER DER Aspiranten? Wo genau kommen denn jetzt die anderen Publika her? Zum Glück boxt Klaus Täuber das nachher wieder gerade: „Hab ich nicht mal in (sic!) Schalke erlebt, so’n Publikum.“
Aber das ist bereits nach dem Elfmeterschießen. So eine Elfmeterschießerei ist irgendwie immer nervenaufreibend, selbst wenn es sich um eine dreißigjährige Aufzeichnung handelt und man das Ergebnis kennt.

Es geht zur Siegerehrung. Das Podest ist mit grün(?)-weißen Ballons geschmückt und der Stadionsprecher spricht: „Liebe Sportfreunde, sie sind mit mir sicherlich einer Meinung: unserer Mannschaft ein dreifaches: Hipp, hipp, hurra! Und unseren Freunden von Espanyol Barcelona wünschen wir für die Zukunft alles Gute!“

Manche meinen, dass Espanyol sich nie von diesem Schock erholt hat. In der folgenden Saison steigt man ab und der Verein gerät in eine schwere finanzielle Krise. Wäre mein Leben anders verlaufen, wenn ich nicht nach der ersten Halbzeit ins Bett gemusst hätte? In jedem Fall hätte ich Silvester 2018 wohl kaum dieses Spiel geguckt. Eigentlich wäre das schade gewesen. Um noch ein letztes Mal Ploog zu zitieren: „Es hat mir Spaß gemacht und Ihnen zuhause hoffentlich auch. Wer nicht, der ist eigentlich selber schuld.“IMG_5780